Anti-Botschafter des Medienzeitalters/ Zur medienkritischen Performance-Praxis von ncp von Kathrin Tiedemann

Für die sogenannten digital natives mag es eine Selbstverständlichkeit sein, im Alltag zwischen verschiedenen Medienrealitäten hin und her zu wechseln. Für diejenigen, die in die digitale Welt nicht hineingeboren wurden, stellte die Anpassung des eigenen Wahrnehmungsapparats an die neue elektronische Umwelt jedoch eine einschneidende Erfahrung dar. Die Veränderung der Wirklichkeit durch die „neuen“ Medien war am eigenen Leib und Bewusstsein zu beobachten und das dazu passende medientheoretische Gebot der Stunde lieferte Marshall McLuhans Credo: „The medium is the message.“
Wie auch immer sich die Initiation in die Medienwirklichkeit im einzelnen vollzogen haben mochte, sie bildete einen gemeinsamen Kontext für die erste „Mediengeneration“ die seit den späten 90er Jahren auch hierzulande das Theatergeschehen mit ihren Ideen und Geschichten prägte, vor allem mit neuen Spielweisen sowie interdisziplinären und multimedialen Bühnenformaten, mit denen man versuchte, auf die neuen Modi der Wahrnehmung zu antworten. Kennzeichnend für diese Entwicklung war die Formulierung eines neuen Wirklichkeitsbezugs, der auf der Erfahrung basierte, sich nicht mehr auf eine unmittelbar erfahrbare Realität beziehen zu können, sondern auf eine Vielzahl vermittelter Medien-Realitäten. Das Phänomen der secondhand-Erfahrung als dominante Form des Wirklichkeitsbezugs rückte für eine Weile in den Fokus der praktischen szenischen Erforschung vieler Performances und Theaterinszenierungen. Die mit dieser Entwicklung einhergehende grundsätzliche Infragestellung von Abbildungsverhältnissen auf der Bühne eröffnete gleichzeitig die Möglichkeit für eine Fülle neuer Spielweisen.
Ein verbindendes Element der frühen Performances von She She Pop, Gob Squad, Showcase Beat Le Mot und anderen aus dem Umfeld der „Gießener Schule“ war die Hervorhebung des utopischen Aspektes eines Lebens in der Welt des Pop, dessen identitätsvervielfältigende und -auflösende, vor allem aber das Leben banalisierende Effekte durchaus begrüßt wurden. Die legendären Warhol’schen 15 Minuten Berühmtheit für jeden – das war der Geist, aus dem heraus die Möglichkeiten der Medienrealität(en) in vielen spielerischen Showformaten erprobt und zelebriert wurden. Es ging um einen Prozess der Aneignung, der es erforderlich zu machen schien, sich den Phänomenen affirmativ anzunähern. Auf diese Weise entstanden Shows, in denen sich die Performer auf der Bühne selbst in Szene setzten, und Konzepte, denen der Wunsch zugrunde lag, die Prinzipien und Arbeitsweisen einer Pop-Band auf das eigene Produzieren zu übertragen. Wenn um uns herum sowieso alles „nur“ Show ist, so die Botschaft, dann lasst uns wenigstens selbst über die Art der Show und über ihre Spielregeln entscheiden. Aber man konnte auch erleben, wie die coolsten künstlerischen Ideen von den neuesten Fernseh-Formaten eingeholt wurden: Mit dem Auftauchen von „Big Brother“ im Deutschen Fernsehen im Jahr 2000 bekam eine Performance wie „What are you looking at?“ von Gob Squad aus dem Jahr 1998, bei der die Performer in einer verspiegelten Box unmittelbar vor den Augen der Zuschauer in wechselnden jugendkulturellen Stilen eine Party feierten, auf überraschende Weise einen neuen Kontext, der den affirmativen Umgang mit der Medienrealität in ein neues Licht rückte.
Die Arbeiten von norton.commander.productions. setzen innerhalb der Mediengeneration ab den späten 90er Jahren einen ganz eigenen Akzent. Sie bleiben zu den Effekten der Medienrealität im Unterschied zu denen der oben erwähnten Performance-Kollektive in einem viel stärkeren Maße auf Distanz – schon allein dadurch, dass die Künstler nicht selbst als Darsteller auf der Bühne stehen. Bereits in „Genetik Woyzeck“ (1997) montierten norton.commander.productions. Videoprojektion und Live-Performance zu einem eigenwilligen Bühnen-Format, das in seiner Multimedialität kritische Perspektiven auf die suggestive Macht der (Fernseh-)Bilder und die durch sie implementierten Machtverhältnisse eröffnete. Bereits diese frühe Arbeit war von einer ausgefeilten, durchkomponierten Ästhetik, die sich deutlich von der trashigen, poppigen Atmosphäre absetzte, die für die Performances gleichaltriger Kollegen Ende der 90er Jahre typisch war.

Mit ihrer „Woyzeck“-Bearbeitung landeten sie einen regelrechten Coup: Berühmte Schauspieler, Künstler und Popstars liehen dem Büchnerschen Figuren-Ensemble ihr Gesicht und ihre Stimme. Einerseits war es absolut beeindruckend, dass es dem jungen Künstlerpaar gelungen war, unter anderem Hanna Schygulla, Eva Mattes, Herbert Fritsch, Ben Becker, Nick Cave, Christoph Schlingensief, Markus Lüpertz und Udo Lindenberg als Darsteller der Marie, des Hauptmanns, des Doktors und des Tambourmajors vor ihre Video-Kamera zu bekommen. Andererseits war das Bedienen des Promi-Faktors eine selbstironische Geste, eine selbstreflexive, spielerische Kritik am Medien- und Kulturbetrieb, seinen Hierarchien und seiner Autoritätshörigkeit. Als „Talking-Heads“ unterhielten sich die Stars von drei Videoscreens herab über Woyzeck oder mit Woyzeck, dessen Figur als einzige live auf der Bühne anwesend war. Jeden Prominenten hatten die Künstler einzeln eine Passage aus Büchners „Woyzeck“ in die Kamera sprechen lassen. Diese Videoclips wurden wie zu einer Live-Video-Konferenz in der Bühneninstallation montiert. Die Rolle des Woyzeck war mit dem Nachwuchs-Filmdarsteller und Musiker Lars Rudolph besetzt. Er zeigt mit Woyzeck ein Individuum, das als Spielball der Mächtigen und der Medien in die Nähe des Wahnsinns hetzt. Die Auflösung der Ich-Grenzen wird "Schau", unter anderem durch Live-Videobilder, die der Darsteller mit einer Mini-Kamera vom eigenen Körperinneren macht. Die Aufführung erzeugte eine spannungsvolle Ambivalenz von gut gemachtem Entertainment, der Einsicht in die eigene Manipulierbarkeit als Zuschauer und dem Erschrecken über die widerstandslose Konsumierbarkeit der medialen Oberflächen – die vor dem tödlichen Ausgang des Dramas keinen Halt macht. Der Büchnersche Satz: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord...“ wurde abschließend vom Sprecher der Tagesschau verlesen.
norton.commander.productions. ist es immer wieder gelungen, den berühmten Schlüsselsatz des kanadischen Medienphilosophen Marshall McLuhans auf schmerzhafte Weise in Erinnerung zu bringen. Dass das Medium die Botschaft sei, heißt ja nichts anderes, als dass nicht der Inhalt eines Mediums die Nachricht ist, sondern die Art und Weise, wie ein Medium durch seine technischen Möglichkeiten eine eigene Realität, eine Form der Kommunikation hervorbringt, die die menschlichen Sinne neu formatiert und so das Bewusstsein und unsere Kultur verändert. Wahrnehmbar, beobachtbar und damit einer möglichen Kritik erst zugänglich, wird diese „Wirkung“ jedoch erst durch die Übersetzung von einem Medium in ein anderes Medium. So lässt sich die „Botschaft“ des Fernsehens nicht verstehen, indem man ausgiebig TV glotzt, sondern McLuhan zufolge ist dazu ein intermedialer Transfer notwendig – der vorzugsweise durch eine künstlerische Praxis erbracht wird. Diesen Zusammenhang noch einmal in Erinnerung zu rufen, scheint mir für das Verständnis der aufkommenden intermedialen und interdisziplinären künstlerischen Praxen im Theaterkontext in den 90er Jahre wichtig. Auch deshalb, weil McLuhans Ideen der 60er und 70er Jahre hierzulande seit den 80er Jahren eine Renaissance und ihre durchschlagende Wirkung entfalteten, nicht zuletzt durch die Rezeption französischer Medien-Theoretiker wie Baudrillard und Virillo sowie durch die Arbeiten von Friedrich Kittler und Klaus Theweleit.
Wie eine analytische Lesart von aktuellen Medieneffekten im Theater vor diesem Hintergrund aussehen kann, zeigt auf eindrucksvolle Weise die Video-Live-Performance „Kommunistenfresser. Oder: Das Leben des einen.“ (2009), eine Collage aus Zitaten aus Internet-Blogs, aus der e-mail-Korrespondenz der fiktiven Schülerin Hanna Kluge mit der KPD und der FDJ, mit der Partei Die Linke, aus Parteiliedern und aus den Vernehmungsprotokollen des Regimekritikers Jürgen Fuchs. Der Titel ist eine Anspielung auf den Hollywood-Film „Das Leben der anderen“ (2006) von Henkel von Donnersmarck, der für das Märchen vom guten Stasi-Spitzel mit Preisen überhäuft wurde – darunter auch der Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Statt eines die Geschichte verklärenden Narrativs, bietet „Kommunistenfresser“ die Konfrontation mit einer komplexen multimedialen Komposition, die die Verbreitung ungebrochener, kommunistischer Ideologie und die Sehnsucht zurück in die DDR – 20 Jahre nach ihrem Ende – sichtbar werden lässt. Eine Collage aus Live-Performance, Video-Bildern, Soundeinspielungen, Pathosformeln und Propaganda fordert die Zuschauer unablässig in ihrer eigenen Positionierung zum Dargestellten heraus.
In den Inszenierungen von norton.commander.productions. geht es darum, die Oberflächen des schönen, medialen Scheins zu durchbrechen und die immer subtileren Techniken der Illusionierung und Ideologiesierung sichtbar zu machen. Sich mit der Anfälligkeit jedes einzelnen gegenüber den verführerischen Botschaften der Medienrealität auseinander zu setzen, scheint angesichts der fortschreitenden Offenherzigkeit, mit der wir unser Innerstes den jeweils neuesten Technologien anzuvertrauen bereit sind, wichtiger denn je. Von der Vertraulichkeit, mit der uns ein Tagesschau-Sprecher über die alltäglichen Grausamkeiten in der Welt hinwegtäuscht, zur vermeintlich freien Meinungsäußerung in den Tiefen des Internets bis hin zur Verwertung privater Daten durch facebook und andere Möglichkeiten der Datensammlung zu kommerziellen oder Überwachungszwecken – es gibt kein Entrinnen: „The user is the content.“ So lautet der zweite, weniger geläufige Teil der McLuhanschen Formel, dessen Tragweite wir gerade erst begonnen haben zu begreifen.

Kathrin Tiedemann ist Intendantin des FFT Düsseldorf