"Hellerau Beat und Matrix" wie die Neunziger unsere Arbeit im Festspielhaus prägten

Arbeitsheft 4 "HELLERAU" Produktionshäuser freier performativer Künste Architektur und Raum für die Aufführungskünste - ein Transdisziplinäres Forschungsprojekt von Barbara Büscher/Verena Eitel (2022)

Wir waren Mitte zwanzig und gehörten zu der Generation „der
Untoten des kalten Kriegs, die Geschichte nicht mehr als Sinnge-
bung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos
begreifen kann“, wie Heiner Müller einmal gesagt hat.143 Wir inte-
ressierten uns als erste Mediengeneration für die medialen Über-
schreibungen der Wirklichkeit, wir waren froh, dem Mief der DDR
entronnen zu sein, wir wollten unseren Individualismus feiern, die
Diktatur lag hinter uns. So unterlag unsere künstlerische Aneig-
nung dieses komplexen Ortes, mit den ihm eingeschriebenen am-
bivalenten Bedeutungs- und Wahrnehmungsschichten, eher einer
Lust der Umcodierung als des Ergründens. Der Ort wurde zum
Material. Hellerau war für uns ein Ventil, ein Ort, an dem man mit
neuen Formen experimentieren konnte.
In flachen Hierarchien, gewagt improvisiert, in chaotischen Abläu-
fen, aus den Reibungen der unterschiedlichen Persönlichkeiten
und Interessen entstand ein Programm sich gegenseitig überkreu-
zender Kunstfelder und Formate, das ständig im konzeptionellen
Fluss war; das sich im Handeln selbst entdeckte und beschrieb –
und das alles ohne ideologische Scheuklappen, im besten Sinne
antiautoritär und lebendig, allein der Autorität durch Autorschaft
eines jeweils individuellen künstlerischen Ansatzes verpflichtet,
ohne Institutionen oder Instrumente, die dahinter standen und
diese Autorschaft lenkten oder überdeckten. Die damaligen Mo-
tive und Ansätze in Hellerau waren alles andere als homogen, die
verschiedenen konzeptionellen Setzungen, intellektuellen Suchbe-
wegungen wurden vom Ort selbst zusammengehalten.
Künstlerische Impulse kamen nicht nur von außen, sondern auch
von innen. Viele ostdeutsche und auch Dresdner Künstler:innen
prägten das Programm von Hellerau und diese Projekte wurden
initiiert und produziert von dem Verein Europäische Werkstatt
für Kunst und Kultur Hellerau e.V. Dabei war vieles wegweisend
und seiner Zeit voraus. Beispielhaft sei hier genannt: Der interdis-
ziplinäre Arbeitsansatz, an dem Detlev Schneiders professionelle
Kuratorentätigkeit einen großen Anteil hatte, vernetzte so unter-
schiedliche wie spannende Persönlichkeiten aus der bildenden
Kunst, dem Theater, der Musik, aus Architektur und Wissenschaft,
lockte sie nach Hellerau und wusste sie für diesen Ort zu begeis-
tern. Carsten Ludwigs konzeptuelle Theaterarbeit mit Laien (lange
bevor es Bürgerbühnen oder Laien als authentische Zeugen des
Alltags gab), der öffentliche Wahrnehmungsraum, den die Kura-
toren Thomas Kumlehn und Matthias Jackisch der Performance-
kunst im „Fest 2“ (1993) gaben (lange bevor Performance ein Label
freien Theaters wurde), die thematischen Setzungen, wie etwa die
Verknüpfung eines Konzerts des slowenischen Kunstkollektivs Lai-
bach in Kombination mit Leni Riefenstahls Film „Triumph des Wil-
lens“ und einer anschließenden Diskussion, die von Bazon Brock
zwischen George Tabori und Hans Jürgen Syberberg, Helma San-
ders-Brahms und Lutz Dammbeck zum Thema „Kunst und Propa-
ganda“ moderiert wurde (auch dies in einer Zeit, wo derartig provo-
kante und konzeptuelle Setzungen nicht selbstverständlich waren).
Für uns persönlich waren die Neunzigerjahre vor allem von der
Computerrevolution und den elektronischen Beats der Clubkultur
angetrieben. Wir gründeten in der Mitte der Neunzigerjahre einen
solchen illegalen Club, den wir an wechselnden Standorten in Dres-
den bis zur Jahrtausendwende betrieben. In diesen Nächten misch-
ten sich Kunst, Musik und ein rauschhaftes Lebensgefühl der Affir-
mation in Bildproduktionsmaschinen und Toncollagen, mit denen
wir wöchentlich unsere Monitore und DJs unsere Lautsprecher
bestückten. Mode, Lifestyle, Wissenschaft, Geschichte, Diktatur –
alles ein popkultureller, ironischer Zitatenschatz, ein wildes Spiel
mit Symbolen und Zeichen, die man sich aneignete.
Ab Ende der Neunzigerjahre inszenierten wir in diesem Sinne ei-
nige popkulturelle Events und Überschreibungen auch im Fest-
spielhaus. So unter dem Titel „AKA Elektrik – mehr Freizeit für
die Frau“ (1999) oder „Maximum Black“ (2002).144 Peaches, Gonza-
les und Taylor Savy gaben ein Konzert unter einer – als historische
Referenz – rotierenden, raumfüllenden, vertikalen Sinuswelle, an
der tausende Glühbirnen befestigt waren und die, von Mitgliedern
des Chaos Computer Club programmiert, wie eine Videomatrix mit
verschiedenen Messages und Slogans bespielt werden konnte.
Vielleicht forderte der Ort in seiner Überwältigungsarchitektur
auch zur räumlichen Inszenierung solch umfassender Events her-
aus, da das Kleinteilige in Hellerau mitunter etwas verloren wirkte.
So folgten wir diesem Prinzip, wenn wir kuratorisch in Hellerau
wirkten noch mehrfach – so in „HighLights“ (2000)145, wo das Fest-
spielhaus in ein Kurhaus mit Pornobar verwandelt wurde, oder
in „Grenzgebiet Heimat“ (2007)146, wo wir eine Kleingartenanlage
im Saal installierten. In „Was ist das Wert“ (2008)147 wurde das ge-
samte Gelände in einen Jahrmarkt der Kunst verwandelt.
Einschneidender als die elektronischen Beats waren aber die sich
gleich einem Virus ausbreitenden Verheißungen des Computer
Zeitalters. Wir gaben uns den Namen norton.commander.produ-
tions. und ein Film wie „Matrix“ prägte sich tief in das kulturelle
Gedächtnis unserer Generation. Auch unsere künstlerische Neu-
gier galt „der Simulation als neuer Realität, die unentrinnbar mit
der alten Realität amalgamiert oder gar an deren Stelle tritt“ wie es
Detlef Schneider im Programmheft zu unserer Inszenierung „Ge-
netik Woyzeck“ (1997) formulierte. Ich war im Fernsehen – also bin
ich! Oder, um Beat Wyss zu zitieren: „Kunst macht den Betrachter
darauf aufmerksam, dass er in einem Leib steckt.“
So wurde für unsere Theaterarbeiten in Hellerau der intermediale
Transfer durch einen technisch raffinierten Umgang mit Video und
Film kennzeichnend. Mittels Collage/Schnitttechnik verfremde-
ten wir bekannte Stoffe, untersuchten und sezierten die jeweiligen
Vorlagen, Filme und Figuren. Das Prinzip der Arbeit war eine Ver-
suchsreihe, eine Reihe von Experimenten, in denen eine neuartige
Struktur entstand. Die Programmatik kreiste dabei oftmals um die
Konfrontation des menschlichen Körpers mit der Medienwelt und
ihren ästhetischen Oberflächen, aber auch ihren impliziten politi-
schen Machtstrukturen. Wir entwickelten eine Faszination für Vor-
gänge, deren Mechanik zu persönlichen Katastrophen führt. Sei es
in „Kosmotest“ (1999), wo die Schöpfungsgeschichte ein einziger
Unfall ist, oder in „Terrain! Terrain! Pull up! Pull up!“ (2000)149, in
welchem wir Black Box-Aufzeichnungen von Flugzeugabstürzen für
ein Spiel am Flugsimulator nutzten. Oder die persönlichen Katast-
rophen in R.W. Fassbinders Arbeiten „Tropfen auf heiße Steine“150
(2002) und „Out of Control“ (UA 2002, Originaltitel: „Warum läuft
Herr R. Amok“)151oder „Solaris“ (2004)152, wo Wissenschaftler als
„lost Cowboys“ in den unendlichen Weiten des Weltraums an den
Heimsuchungen ihrer irdischen Biografie zu Grunde gehen.
Eingebettet waren diese Arbeiten in einen allgemeinen Aufbruch
junger Theatermacher, der sich in den Neunzigern im freien Thea-
ter vollzog und welche in verschiedensten Konstellationen und
Formaten auch in das Festspielhaus eingeladen wurden. Wie etwa
Showcase Beat Le Mot, René Pollesch, She She Pop, Gob Squad
oder später die Big Art Group.
Kathrin Tiedemann schreibt hierzu im Rückblick auf diese Zeit
und unsere Arbeit:
„Für die sogenannten Digital Natives mag es eine Selbstverständ-
lichkeit sein, im Alltag zwischen verschiedenen Medienrealitäten
hin und her zu wechseln. Für diejenigen, die in die digitale Welt
nicht hineingeboren wurden, stellte die Anpassung des eigenen
Wahrnehmungsapparats an die neue elektronische Umwelt jedoch
eine einschneidende Erfahrung dar. […] Wie auch immer sich die
Initiation in die Medienwirklichkeit im Einzelnen vollzogen haben
mochte, sie bildete einen gemeinsamen Kontext für die erste ‚Me-
diengeneration‘, die seit den späten 90er Jahren auch hierzulande
das Theatergeschehen mit ihren Ideen und Geschichten prägte,
vor allem mit neuen Spielweisen sowie interdisziplinären und mul-
timedialen Bühnenformaten, mit denen man versuchte, auf die
neuen Modi der Wahrnehmung zu antworten. […]
Die Arbeiten von norton.commander.productions. setzen inner-
halb der Mediengeneration ab den späten 90er Jahren einen ganz
eigenen Akzent.
Bereits in „Genetik Woyzeck“ (1997) montierten sie Videoprojek-
tion und Live-Performance zu einem eigenwilligen Bühnen-Format,
das in seiner Multimedialität kritische Perspektiven auf die sug-
gestive Macht der (Fernseh-) Bilder und die durch sie implemen-
tierten Machtverhältnisse eröffnete. Bereits diese frühe Arbeit
war von einer ausgefeilten, durchkomponierten Ästhetik, die sich
deutlich von der trashigen, poppigen Atmosphäre absetzte, die für
die Performances gleichaltriger Kollegen Ende der 90er Jahre ty-
pisch war. Mit ihrer „Woyzeck“-Bearbeitung landeten sie einen re-
gelrechten Coup: Berühmte Schauspieler, Künstler und Popstars
liehen dem Büchnerschen Figuren-Ensemble ihr Gesicht und ihre
Stimme. Einerseits war es absolut beeindruckend, dass es dem jun-
gen Künstlerpaar gelungen war, unter anderem Hanna Schygulla,
Eva Mattes, Herbert Fritsch, Ben Becker, Nick Cave, Christoph
Schlingensief, Markus Lüpertz und Udo Lindenberg als Darsteller
der Marie, des Hauptmanns, des Doktors und des Tambourmajors
vor ihre Video-Kamera zu bekommen. Andererseits war das Be-
dienen des Promi-Faktors eine selbstironische Geste, eine selbst-
reflexive, spielerische Kritik am Medien- und Kulturbetrieb, seinen
Hierarchien und seiner Autoritätshörigkeit. Als ‚Talking-Heads‘
unterhielten sich die Stars von drei Videoscreens herab über Woy-
zeck oder mit Woyzeck, dessen Figur als einzige live auf der Bühne
anwesend war. Jeden Prominenten hatten die Künstler einzeln eine
Passage aus Büchners „Woyzeck“ in die Kamera sprechen lassen.
Diese Videoclips wurden wie zu einer Live-Video-Konferenz in der
Bühneninstallation montiert. Die Rolle des Woyzeck war mit dem
Nachwuchs-Filmdarsteller und Musiker Lars Rudolph besetzt. Er
zeigt mit Woyzeck ein Individuum, das als Spielball der Mächtigen
und der Medien in die Nähe des Wahnsinns hetzt. Die Auflösung
der Ich-Grenzen wird ‚Schau‘, unter anderem durch Live-Video-
bilder, die der Darsteller mit einer Mini-Kamera vom eigenen Kör-
perinneren macht. Die Aufführung erzeugte eine spannungsvolle
Ambivalenz von gut gemachtem Entertainment, der Einsicht in
die eigene Manipulierbarkeit als Zuschauer und dem Erschrecken
über die widerstandslose Konsumierbarkeit der medialen Ober-
flächen – die vor dem tödlichen Ausgang des Dramas keinen Halt
macht. Der Büchnersche Satz: ‚Ein guter Mord, ein echter Mord,
ein schöner Mord …‘ wurde abschließend vom Sprecher der Tages-
schau verlesen […].
In den Inszenierungen von norton.commander.productions. geht
es darum, die Oberflächen des schönen, medialen Scheins zu
durchbrechen und die immer subtileren Techniken der Illusionie-
rung und Ideologisierung sichtbar zu machen. Sich mit der Anfäl-
ligkeit jedes einzelnen gegenüber den verführerischen Botschaften
der Medienrealität auseinanderzusetzen, scheint angesichts der
fortschreitenden Offenherzigkeit, mit der wir unser Innerstes den
jeweils neuesten Technologien anzuvertrauen bereit sind, wichti-
ger denn je. Von der Vertraulichkeit, mit der uns ein Tagesschau-
Sprecher über die alltäglichen Grausamkeiten in der Welt hinweg-
täuscht, zur vermeintlich freien Meinungsäußerung in den Tiefen
des Internets bis hin zur Verwertung privater Daten durch face-
book und andere Möglichkeiten der Datensammlung zu kommer-
ziellen oder Überwachungszwecken – es gibt kein Entrinnen: ‚The
user is the content.‘ So lautet der zweite, weniger geläufige Teil der
McLuhanschen Formel, dessen Tragweite wir gerade erst begon-
nen haben zu begreifen.
Strukturen – von der Improvisation zur Institution.
Das Ende des Vereins Europäische Werkstatt für
Kunst und Kultur Hellerau e.V.
Thomas Kumlehn formulierte in der Broschüre Festspielhaus Helle-
rau (1997/1999):
„Ich wünsche dem Festspielhaus, dass es introvertiertes Labor wer-
den sollte, für theoretische und praktische Entwürfe. Das in sol-
chen Laboratorien auch ausgewählte öffentliche Veranstaltungen
dazu gehören, steht außer Frage. Nur verweigere ich mich mit die-
ser Idee dem verschleißenden Beweisdruck, das z.B. jede künstle-
rische Arbeit, ob als Entwurf oder in der Umsetzung, der öffentli-
chen Kenntnisnahme bedarf, um die Legitimation der erhaltenen
öffentlichen Förderung vom Publikum beglaubigen zu lassen.“154
Für den Laborgedanken bzw. einen ähnlichen Entwurf war Helle-
rau wahrscheinlich zu groß und zu unterschiedlich waren die Inter-
essen der beteiligten Künstler:innen, Politiker:innen, Architekt:in-
nen etc., die mit der Sanierung und Nutzung des Areals verknüpft
wurden. Vor allem die (westdeutsche) kulturpolitische Erfahrung
und Logik gab vor, wie ein solcher Ort zielstrebig aufgebaut und
wieder zu einem Zentrum der Moderne werden sollte.
Es engagierten sich Stiftungen, Vorstände, es bildeten sich inter-
essengeleitete Netzwerke, es gab Deals und Absprachen zwischen
Kulturvermittler:innen, es ging um Geld und Aufträge und es gab
Anwälte, die ‚Hellerau‘ in ihr persönliches, gesellschaftliches und
geschäftliches Portfolio aufnahmen. Dadurch veränderte sich der
Ort, er ‚professionalisierte‘ sich und der ungebundene Geist be-
gann sich langsam zu verflüchtigen. Im Verein gab es mehr und
mehr inhaltliche Auseinandersetzungen, die unter dem zuneh-
menden Druck einer ganzjährigen ‚Bespielung‘ entstanden. Zudem
fehlte es an Geld, um Strukturen zu schaffen, und die unterschied-
lichen Interessen führten zu Streit über Richtungsfragen und
schlussendlich zur Selbstdemontage. Ein Ort wie das Festspielhaus
Hellerau ist, sobald er strukturell wächst, – so die Erkenntnis heute
– eine gesellschaftspolitische Setzung und formt sich Außen wie
Innen zu einem Apparat, der wie jede öffentliche Institution, auch
ein Machtinstrument ist. Die Dynamik, die dieses Faktum mit sich
bringt, hatten einige Vereinsmitglieder und wahrscheinlich in ers-
ter Linie wir Künstler, die weniger an Strukturen als an der Kunst
interessiert waren, unterschätzt.
So endete die Geschichte des Vereins 2004 mit der Übernahme
durch die Stadt Dresden und der Gründung des Europäischen Zen-
trums der Künste Hellerau e.V.
Wir waren seit 1993 im Festspielhaus Hellerau involviert, zunächst
in die Arbeiten des Regisseurs Carsten Ludwig. Danach entwickel-
ten wir unter unserem damaligen Namen norton.commander.pro-
ductions. bis 2014 eine Vielzahl eigener Projekte und Inszenierun-
gen und waren zudem zwischen 2004 und 2008 kuratorisch für das
Europäische Zentrum für Kultur Hellerau tätig.
Seit 2015 widmen wir uns in erster Linie unseren Filmprojekten.
Das Festspielhaus Hellerau und insbesondere die Aufbruchszeit in
den Neunzigerjahren werden wir jedoch stets als besonders inten-
sive und prägende Zeit erinnern.


aus Arbeitsheft 4 Hellerau
Architektur und Raum für die Aufführungskünste. Häuser und Orte künstlerisch-kultureller Mischnutzungen - ein Transdisziplinäres Forschungsprojekt - 2022